Der Löwe mit dem psychischen Problem

Diese Geschichte handelt von einem Löwen mit dem Namen Ludwig. Ludwig lebt auf dem weit entfernten Planeten Mufasa, der Planet der Löwen. Er ist ein Löwe im besten Alter und lebt zusammen mit Lola, der Löwin seines Herzens. Sie haben zwei ganz putzige Löwenkinder in die Welt gesetzt, die den beiden viel Freude bereiten. Diese liebenswerte Löwenfamilie lebt in einem schnuckeligen Löwenreiheneckbau mit kleinem Gartenanteil am Rande einer pulsierenden Großstadt ganz nah zur Savanne. Und da sie alle noch nicht gestorben sind, leben sie noch heute. Allerdings ist in Ludwigs Leben etwas komisch…

Er ist zwar ein Löwe und kam einst mit angeborener Stärke und ohne natürliche Feinde auf diese Welt. Jedoch glaubt er von sich selbst, dass er ein Hamster ist. Äh, wie? Was ist hier los? Trotz seiner Löwennatur, fühlt er sich klein, machtlos und ängstlich. So wie sich ein Hamster eben fühlt. Bei Lola sieht es nicht viel besser aus. Auch sie ist voll davon überzeugt, ein Hamster zu sein. Löwen und Hamster haben beide eine dichte Körperbehaarung, aber ansonsten gibt es nicht besonders viele Gemeinsamkeiten. Haben Ludwig und Lola einen an der Waffel?

Man könnte sagen, hier haben zwei Löwen ein psychisches Problem. Das kriegt man vielleicht durch eine Gesprächstherapie, eine Familienaufstellung oder ein paar Tabletten wieder hin. Jedoch glauben auch die meisten anderen Löwen auf diesem Planeten, Hamster zu sein. Der Planet der Hamster wäre also treffender. Da fast jeder von dieser krankhaften Identitätsstörung befallen ist, fällt es nicht auf, dass es eine Krankheit ist.

Jedoch gibt es einige wenige Löwen, die sich ihrer Stärke und ihrer Macht bewusst sind. Sie bilden auf Mufasa die Machtelite und treffen sich wöchentlich im Lion’s Club. Sie haben kein wirkliches Interesse, an der Situation etwas zu verändern. Sie sind froh, dass es so ist, wie es ist. Sie profitieren von dieser eingebildeten Hamsteridentität.

Auch folgendes ist komisch: Ludwig und Lola erzählen täglich ihren Löwenkindern, dass sie in Wirklichkeit Hamster sind. Sie erklären ihnen, dass sie vom Leben nicht allzu viel zu erwarten haben. Sie bringen ihnen bei, brav zu gehorchen und die Erwartungen anderer zu erfüllen. Auch hören sie von ihren Eltern ständig befehlsartige Sätze wie »Sei still!« und »Sitz!« und »Lass das! Du kannst das nicht!«

Auch sie kamen einst mit Gebrüll, natürlicher Stärke und geballter Lebensfreude auf die Welt. Mittlerweile verfärbt sich aber auch ihr Selbstbild und sie beginnen, wie Hamster zu denken, zu fühlen und zu handeln. Sie werden von Jahr zu Jahr ängstlicher und ihre angeborene Lebensfreude verschwindet immer mehr. Sie sind jetzt schon fast »normal«. Zumindest in den Augen der anderen erwachsenen Hamster-Löwen.

Ludwig arbeitet bei einem großen fleischverarbeitenden Konzern. Das Aushänge-Wurstprodukt ist eine Lioner. Er geht täglich am Morgen mit all den anderen Hamster-Löwen mehr oder weniger freiwillig an den Arbeitsplatz. Es herrscht keine Zwangsarbeit, jedoch der Zwang zur Arbeit. Jeder steigt hinein in sein ganz persönliches Hamsterrad und alle beginnen zu strampeln, um den zentralen Fleischwolf in Bewegung zu halten.

Die Firma unternimmt Maßnahmen, um die Effizienz ihrer Strampelei zu erhöhen. So kann das Unternehmen noch mehr Lioner herstellen und höhere Umsätze erwirtschaften. Ludwig macht das Spiel widerwillig und freudlos mit. An seiner Situation verändert er nichts, also ganz Hamster-like. Ludwig glaubt tief im Inneren keine Wahl zu haben. Seine eingebildete Hamster-Identität hat sich unbemerkt in sein Bewusstsein eingeschlichen, so dass er nicht einmal in Frage stellt, dass er keine Wahl hat. So ist Ludwig irgendwie auch froh, dass er überhaupt ein Hamsterrad hat. Er hält sein Maul und strampelt weiter, so schnell er kann.

Wenn Ludwig abends nach Hause kommt zu seiner verkappten Hamster-Löwen-Familie, dann hat er meist keine Lust und Energie, mit seinen Löwenkindern zu spielen. Er sitzt lieber vor dem Fernseher und schlürft eine Flasche Löwenbräu. Dort sieht er täglich die Beweise, wie gefährlich und schlecht diese Welt ist. Er bevorzugt deshalb ein Leben in gewohnter Umgebung. Das gibt ihm Sicherheit. Veränderung macht ihm Angst.

Ludwigs Leben entspricht nicht gerade seinen schönsten Vorstellungen, aber wirklich schlecht findet er es auch nicht. Es könnte ja alles noch viel schlimmer sein. Allerdings träumt er insgeheim von einem ganz anderen Leben. Er würde gerne wild und frei von allen Zwängen in der Savanne leben, viel mehr Zeit mit seiner Löwenlady und den Kindern verbringen und zusammen glücklich in den Sonnenuntergang brüllen. Er träumt von einem Leben, das einem Abenteuer gleicht. Wo jeder Tag ihm gehört, so wie früher einmal, als er selbst noch ein Löwenkind war.

Außerdem hat er eine Idee, für die sein Löwenherz pocht und die er gerne verwirklichen möchte: Er träumt von einer eigenen Firma, die Fair-Trade-Bio-Fleisch von einst glücklichen, freilaufenden Antilopen verkauft, die den Winter ohnehin nicht überlebt hätten. Ludwig möchte die Welt nach seinen Vorstellungen ein bisschen schöner und lebenswerter für alle machen. Zumindest theoretisch.

Allerdings unternimmt Ludwig nichts Ernsthaftes dafür. Er kann seine ursprüngliche Stärke nicht mehr fühlen und so wagt er sich nicht an die Umsetzung. Ihm fehlt schlicht der Mut, das Vertrauen und der Glaube an sich selbst. Er gibt zwar vor, stark zu sein, doch innerlich und teils unbewusst ist er mehr von seiner Schwäche überzeugt.

So geht Ludwig wieder latent depressiv zurück in sein Hamsterrad. Seine wahren Möglichkeiten kann er nicht sehen. So bemerkt er nicht, dass er es selbst in der Hand hätte. Armer Ludwig. Aber bald hat er Urlaub. Und so endet diese Geschichte doch noch mit einem Happy-End.

Gott sei Dank passiert so etwas nur auf einem weit weit weit entfernten Planeten. Noch einmal Glück gehabt, ihr lieben Löwen.

Auszug aus meinem Buch Herr Doktor, ich habe Visionen

Christian Kirschner

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